Pressemitteilung

9. September 2020: Tag des alkoholgeschädigten Kindes 

Im Gespräch zum Tag des alkoholgeschädigten Kindes (von links): Dr. med. Andreas Gerhardt, Oberarzt der Kinderklinik des Harzklinikums Dorothea Christiane Erxleben, Nicole Höpner, Sachgebietsleiterin Sozialpädagogischer Fachdienst des Jugendamtes des Landkreises Harz, sowie Dr. med. Eckart Grau, Ärztlicher Direktor des Diakonie-Krankenhauses Elbingerode. (Foto: Anabel Zwerschke/Diakonie-Krankenhaus Harz GmbH)

Wenn Schwangere Alkohol trinken

Interview zum Tag des alkoholgeschädigten Kindes am 9. September 2020

Elbingerode. Ein bis zwei Prozent der deutschen Bevölkerung war noch im Mutterleib bereits betrunken. Pro 10 000 Einwohner in Deutschland gibt es derzeit 177 Kinder, die lebenslange Schäden wie Fehlbildungen, geistige Behinderungen, Entwicklungs- und Wachstumsstörungen und extreme Verhaltensauffälligkeiten wegen des Alkoholkonsums ihrer Mütter während der Schwangerschaft davongetragen haben. Diese aktuellen Zahlen nennt der FASD Deutschland e.V., hochgerechnet auf die Einwohnerzahl der Bundesrepublik bedeutet das: 1,45 Millionen Menschen waren und sind davon betroffen – soviele wie München Einwohner hat. Zudem wird eine große Dunkelziffer vermutet, auch deshalb, weil es in Deutschland keine Meldepflicht über die Geburten von Kindern mit FASD gibt. Als FASD bezeichnen Mediziner die Fetalen Alkohol-Spektrumsstörungen (Fetal Alcohol Spectrum Disorder). Dennoch werden die Gefahren von Alkoholkonsum während der Schwangerschaft werden noch immer unterschätzt. Anlässlich des Tages des alkoholgeschädigten Kindes am 9. September äußern sich drei Experten zu diesem Thema: Nicole Höpner, Sachgebietsleiterin des Sozialpädagogischen Fachdienstes im Jugendamt der Kreisverwaltung, Dr. med. Andreas Gerhardt, Oberarzt an der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Harzklinium Dorothea Christiane Erxleben und Dr. med. Eckart Grau, Ärztlicher Direktor der Rehabilitationsklinik für Abhängigkeitserkrankungen im Diakonie-Krankenhaus Elbingerode.

Welche Folgen hat der Alkoholkonsum während der Schwangerschaft für die Geburt und diefrühkindliche Entwicklung?

Dr. med. Andreas Gerhardt: Der Alkohol gelangt aus dem Blut der Mutter direkt in den Kreislauf des ungeborenen Kindes – ohne den Umweg über die Leber wie bei Erwachsenen. Dort verteilt er sich und wirkt unmittelbar schädigend auf alle Zellen und deren Teilung, also auf die Entwicklung des Kindes im Mutterleib. Bereits kleine Mengen reichen aus, um wachsende Organe und das Nervensystem des Kindes zu schädigen. Die Folgen sind weitreichend: eine erhöhte Abort- und Fehlgeburtenrate, Frühgeburten, Fehlbildungen. Die Neugeborenen trinken schlecht und nehmen deshalb schlecht zu. Sie haben je nach Schwere des Alkoholkonsums ihrer Mutter Entzugserscheinungen.

Gibt es ein genaues Krankheitsbild?

Dr. med. Andreas Gerhardt: Nein, das ist die Krux. Die Symptome treten sehr unspezifisch und in unterschiedlicher Intensität auf. Die Fetale Alkohol-Spektrumsstörung (FASD) umfasst das Fetale Alkoholsyndrom (FAS), das Partielle Fetale Alkoholsyndrom (pFAS) sowie alkoholbedingte Geburtsschäden und neurologische Entwicklungsstörungen. Sichtbar ist nur das FAS als Spitze des Eisberges: Ein Krankheitsbild mit Leitsymptomen wie Kleinwuchs, Gesichtsauffälligkeiten, unterschiedlich stark ausgeprägten Entwicklungsstörungen, intellektuellen Beeinträchtigungen, kognitiven Störungen und Verhaltensstörungen. Die meisten von partieller FAS betroffenen Kinder bleiben hingegen unentdeckt oder werden diagnostisch falsch eingeordnet, weil die Symptome denen anderer Krankheitsbilder ähneln.

Ist FASD heilbar?

Dr. med. Eckart Grau: Nein. Wie bei der Suchterkrankung ist auch FASD nicht heilbar. Das Leben der alkoholgeschädigten Kinder kann nur entsprechend ihrer besonderen Bedürfnisse gestaltet werden, und das am besten nach einer sehr frühen Diagnose.

Das Jugendamt hat Einblicke in familiären Situationen. Mit welchen Problemen in ihrer sozialen Entwicklung sind diese Kinder konfrontiert?

Nicole Höpner: Das Hauptproblem liegt im unentdeckten Alkoholsyndrom der Kinder: Die Erscheinungsbilder der Kinder sind zunächst normal. Der Alkoholismus in Familien wird oftmals öffentlich geheim gehalten, Sorgeberechtigte handeln aus Unwissenheit oder mangelndem Interesse. Meist treten dann aber im Kindergarten oder in der Schule Beziehungsprobleme auf. Das Lernen fällt den Kindern schwer. Sie werden ausgegrenzt, weil sie nicht in der Lage sind, mit Gleichaltrigen mitzuhalten.

Welche Förderungsmöglichkeiten gibt es für Kinder mit FASD?

Nicole Höpner: In erster Linie werden über das Jugendamt Hilfen “installiert”, um die Probleme der Eltern und des Kindes gemeinsam lösen zu können. Wir vermitteln diese Betroffenen an unsere Netzwerkpartner wie Sozialpädiatrische Zentren, Integrationshelfer, Familienhebammen, Integrative Kindertagesstätten, etc.Es gibt aber auch Fälle, bei denen sich die Mutter aus ganz unterschiedlichen Gründen sich nicht mehr um ihr Kind kümmern kann. Dann vermitteln wir an Pflegestellen. Zu FASD: Im Harzkreis sind derzeit cirka zehn Prozent der Pflegekinder alkoholgeschädigte Kinder.

Alkohol in der Schwangerschaft ist schädlich. Das ist jedem bekannt, darüber sprechen die Gynäkologe während der Schwangerschaft mit den werdenden Müttern. Warum gibt es dennoch so viele alkoholgeschädigte Kinder?

Dr. med. Eckart Grau: Frauen gehen in der Regel anders als Männer mit ihrem Alkoholproblem um: Sie trinken heimlich. Sie sind ständig dem inneren Konflikt ausgesetzt: Fürsorglich dem Kind gegenüber sein oder der eigenen Sucht verfallen. Meist siegt die Sucht. Ich bezweifle, dass schwangere Frauen mit einem Alkoholproblem wirklich regelmäßig zum Frauenarzt gehen. Sie schämen sich in dieser Situation. 

Sind Kinder, die im Mutterleib Schäden durch Alkohol davongetragen haben, suchtgefährdeterals andere?

Dr. med. Eckart Grau: Ja. Und dieser Zusammenhang ist schon gegeben, wenn allein der Vater des Kindes suchtkrank ist.

Welche präventiven Maßnahmen erachten Sie als geeignet, den Alkoholkonsum vonSchwangeren zu verhindern?

Dr. med. Eckart Grau: Vor allem müssen wir immer wieder über die Folgen aufklären: Schon kleine Mengen Alkohol während derSchwangerschaft ziehen lebenslange Schäden für das ungeborene Kind nach sich. Alkohol ist ein Zellgift fürden Menschen. Das gilt für jedes Alter. Die einzige Prävention ist, gar keinen Alkohol zu trinken.
Außerdem müssen wir unser Netzwerk aus Kinderärzten, Gynäkologen, Suchtmedizinern, dem Jugendamt,dem Netzwerk frühe Hilfen des Landkreises Harz weiter ausbauen und intensivieren. Wir brauchen indieser präventiven Arbeit kurze Kommunikationswege der handelnden Personen, um gemeinsam mit denPatientinnen und ihren Angehörigen etwas erreichen zu können.

Wie sollten Ihrer Meinung nach Kinder mit FASD gesellschaftlich integriert werden?

Dr. med. Andreas Gerhardt: Bei einem Kind mit FASD gibt es eine große Diskrepanz zwischen den Erwartungen, die an das Kind gestellt werden und dem, wozu das Kind überhaupt in der Lage ist. Das führt zu Verzweiflung des Kindes und der Menschen im Umfeld. Die Biografie des Kindes ist oftmals nachhaltig gestört, weil die Einschränkungen nicht in den Zusammenhang mit der Diagnose gebracht werden.Alkoholgeschädigte Kinder brauchen dringend den Schutz der Behinderung und damit die besondere Förderung. Voraussetzung, diesen Kindern geeignete Förder- und Unterstützungsmöglichkeiten zu bieten, sind die frühzeitige Diagnose und die Aufklärung über die Krankheit.

Welche Maßnahmen zur frühzeitigen Diagnose schlagen Sie konkret vor?

Dr. med. Andreas Gerhardt: Wir brauchen eine systematisierte Frühdiagnostik: Kurz nach der Geburt werden wichtige Untersuchun- gen wie zum Beispiel zur frühzeitigen Erkennung von Stoffwechselerkrankungen oder Hörschädigungen durchgeführt. Diese Erkrankungen treten aber im Vergleich zu FASD sehr viel seltener auf. Würden wir ein Screening für FASD standardisiert durchführen und entsprechende Daten erfassen, dann könnte dem betroffenen Kind frühzeitig geholfen und einiges an Hürden in seinem Leben erspart werden.

Als Fazit bleibt:

Alkoholkonsum ist in Deutschland ein kulturelles Gut, das wird jedoch nicht umfassend reflektiert. Die Folgen des Alkoholkonsums sind nicht ausreichend im Blick. Außerdem ist die Problematik in unserer Gesellschaft mit Begriffen wie Verantwortung und Schuld verknüpft. Hierbei gilt es nicht, der Mutter des Kindes die alleinige Verantwortung zuzuweisen. Die Frage ist vielmehr: Will eine zutiefst co-abhängige Gesellschaft die Verantwortung für alkoholgeschädigte Kinder (FASD) auf sich nehmen?

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